Experte analysiert Entwicklungen im Ukraine-Krieg - Neue Kriegstaktik der Russen? „Sie sind nicht so dumm, wie wir es gerne darstellen“

Kiews größtes Kinderkrankenhaus wurde offenbar von einer Rakete getroffen.<span class="copyright">IMAGO/NurPhoto</span>
Kiews größtes Kinderkrankenhaus wurde offenbar von einer Rakete getroffen.IMAGO/NurPhoto

Das US-amerikanische „Institute for the Study of War“ (ISW) glaubt, dass Russland im Krieg gegen die Ukraine eine neue Taktik fährt. Besonders tief fliegende Marschflugkörper sollen den Gegner unter Druck setzen. Militärexperte Ralph Thiele erklärt, was der „faradaysche Käfig“ damit zu tun hat.

Blutverschmierte Menschen, die vor Trümmern stehen, kaputtes Inventar und Frauen, die Kinder auf dem Rücken tragen: Die Aufnahmen, die nach dem Raketenangriff am Montag auf das Kinderkrankenhaus „Ochmatdyt“ in Kiew entstanden sind, erschüttern Menschen auf der ganzen Welt.

Wer für die Zerstörung der Klinik verantwortlich ist, wird derzeit hitzig diskutiert. Die Ukraine und die Vereinten Nationen vermuten, dass ein russischer Marschflugkörper das Krankenhaus getroffen hat.

„Die Schlussfolgerungen der Experten sind eindeutig - es war ein direkter Angriff“, teilte der ukrainische Geheimdienst SBU zuletzt via Telegram mit.

Moskau wiederum weist die Vorwürfe zurück. Ein Geschoss eines ukrainischen Boden-Luft-Raketenabwehrsystems habe die Klinik zum Einsturz gebracht, behauptet das russische Außenministerium.

Russland weist Vorwürfe zurück

Wer Recht hat, lässt sich nicht zweifelsfrei belegen. Fest steht aber, dass die Ukraine massiv unter Beschuss steht. Am Montagmorgen griff Russland nicht nur Kiew, sondern mehrere Großstädte des Nachbarlandes an, darunter Kramatorsk, Krywyj Rih und die Millionenmetropole Dnipro.

Nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums starben bei den Attacken mindestens 30 Menschen, mehr als 100 wurden teilweise schwer verletzt. In den Berichten über die Angriffe ist die Rede von Raketen, Drohnen und Bomben, die zum Einsatz kamen, insbesondere auch vom Marschflugkörper Kh-101.

Der US-Thinktank „Institute for the Study of War“ (ISW) , der den Ukraine-Krieg seit 2022 mit regelmäßigen Analysen begleitet, berichtete am 8. Juli - also dem Tag der Großstadt-Offensive - von einer „neuen und bemerkenswerten Taktik“ der russischen Armee.

Marschflugkörper in „extrem niedriger Höhe“

In dem Beitrag wird der ukrainische Oberst Yuriy Ihnat zitiert. Er erzählt von russischen Marschkörpern in „extrem niedriger Höhe“. In einigen Fällen hätten ukrainische Luftverteidigungskräfte versucht, Raketen abzufangen, die nur bis zu 50 Meter über dem Boden flogen.

„Solche Marschflugkörper werden vom Boden, aus der Luft oder von See aus gestartet“, sagt Ralph Thiele, Oberst a. D. und Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft mit Sitz in Berlin, im Gespräch mit FOCUS online.

„Flughöhe und Flugweg werden vorab für jedes Ziel programmiert und an erkannte gegnerische Bedrohungen angepasst. Deswegen fliegt man außerhalb gegnerischer Radarerfassung hoch und schnell, später dann tief und schnell.“

„Russen sind nicht so dumm, wie wir es gerne darstellen“

Eine wichtige Rolle spielen auch elektromagnetische Signaturen, sagt Thiele. Sie sind eine Art „Fingerabdruck“ technischer Systeme, zum Beispiel von Drohnen, Marschflugkörpern, Flugzeugen und Flugabwehrsystemen.

Bordradar, -computer und -datenbanken erkennen diese Signaturen, verstehen die Bedrohungen, die sich daraus ergeben und helfen Drohnen oder Marschflugkörpern, potenziellen Gefahren selbständig auszuweichen.

Ihnat erklärt im ISW-Beitrag, dass die russischen Streitkräfte die Signaturen ihrer Drohnen bis zur letzten Sekunde abschirmen, um eine Entdeckung durch die ukrainische Armee zu verhindern. So können fürchterliche Überraschungsangriffe gelingen, erklärt Thiele.

„Die Russen planen jeden einzelnen Flugkörpereinsatz bis ins Detail. Sie sind nicht so dumm, wie wir es gerne darstellen. Im Gegenteil: Sie lernen extrem schnell.“ Für neu hält er ihre Taktik allerdings nicht.

Russland versucht, die Ukraine zu schwächen - bevor neues Equipment kommt

„In der elektronischen Kampfführung sind die Russen schon seit langem besser aufgestellt als der Westen“, sagt der Militärexperte.

„Sie nutzen den faradayschen Käfig, um ihre Waffen abzuschirmen. Sie sind Mathematiker und analysieren, wie sie mit wenig Aufwand das Erkennen und Auslesen ihrer Signaturen verhindern können.“

Die Russen, so beschreibt es Thiele, verfügen über Datenbanken mit den Signaturen der Ukrainer. „Das gilt allerdings auch umgekehrt.“ Für den Militärexperten ist die Situation klar: Russland versucht, die Ukraine zu schwächen, ehe neues Equipment aus dem Westen geliefert wird.

Unterstützung kommt jedenfalls nach und nach im Nachbarland an. Gerade erst sind Munition und Ausrüstung zur Abwehr von Drohnen aus Litauen eingetroffen, teilte das Verteidigungsministerium in Vilnius mit. Auch Klappbetten seien übergeben worden.

Weitere westliche Unterstützung für Ukraine angekündigt

Beim Festakt zum 75-jährigen Bestehen der Nato kündigte US-Präsident Joe Biden außerdem weitere Ausrüstung zur Abwehr russischer Luftangriffe an.

In einem gemeinsamen Statement der USA und mehrerer Partner war die Rede von „zusätzlichen“ Patriot-Luftabwehrsystemen sowie taktischen Luftabwehrsystemen - etwa vom Typ Nasams oder Iris-T.

„Diese Systeme werden die Luftverteidigung der Ukraine weiter ausbauen und stärken.“ Die gemeinsame Erklärung kam unter anderem von den USA, Deutschland, den Niederlanden, Rumänien und Italien.

Unklar ist allerdings, wie lange es dauern wird, bis die jetzt versprochenen Patriot-Systeme in der Ukraine ankommen, die dortigen Soldaten ausgebildet und die Waffen in das ukrainische Luftverteidigungssystem eingebunden sind.

Warum die westlichen Sanktionen Russland nicht empfindlich treffen

Für Thiele steht fest: „Russland setzt seine offensiven, unbemannten Luftkriegsmittel hochprofessionell ein.“ Das kann in seinen Augen langfristig auch für uns gefährlich werden. „Das Geld und der politische Wille, Europa, aber auch Deutschland wettbewerbsfähig zu machen, fehlt.“

Der Militärexperte glaubt auch, dass Russland durch westliche Sanktionen nicht einfach ausbluten wird. Diese These stützt ein Interview mit dem Ökonom Vasily Astrov, das kürzlich bei „Welt“ erschien.

Astrov trackt im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums russische Wirtschaftsdaten. Aus dem Gespräch mit der „Welt“ wird deutlich: Die russische Wirtschaft steht so gut da wie selten.

„Putin sitzt auf einem Goldschatz“

„Andere Faktoren machen die Sanktionen mehr als wett“, sagte der Wirtschaftsexperte dem Portal. „Staaten wie China, Indien und die Türkei ersetzen als Handelspartner Europa. Und die hohen Staatsausgaben kurbeln die inländische Wirtschaft an.“

Russland hat laut Astrov solide Reserven aufgebaut. „Vor dem Krieg lag der Fokus des Kreml auf Sparsamkeit und dem Abbau von Auslandsschulden, um die Erpressbarkeit durch den Westen zu reduzieren. Russland hat ein großes finanzielles Polster aufgebaut, das es nun für Staatsausgaben nutzen kann.“

Das sagt übrigens auch Thiele: „Putin hat keine Geldsorgen. Er sitzt auf einem Goldschatz an natürlichen Ressourcen. Er kann seine Kriegswirtschaft am Laufen halten, indem er zum Beispiel Gas und Öl nach China oder Indien verkauft.“

Indien und Russland loben Partnerschaft

Nach Angaben der Regierung in Moskau ist Indien zum größten Abnehmer von russischem Öl aufgestiegen.

„Indien ist der wichtigste Markt und zum heutigen Tag ist Indien für uns im Energiesektor einer der Schlüsselpartner“, sagte Russlands Vizeregierungschef Alexander Nowak nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax.

Ihm zufolge lieferte Russland im vergangenen Jahr 90 Millionen Tonnen Öl nach Indien. Und mehr noch: Der indische Premier Narendra Modi besuchte Kreml-Chef Wladimir Putin erst vor kurzem für knapp zwei Tage.

Beide lobten die jahrzehntelangen Beziehungen ihrer Länder als „privilegierte strategische Partnerschaft“, die weiter ausgebaut werden solle. Unter anderem bei Militärtechnologien wollen Indien und Russland weiter zusammenarbeiten.