Ist jetzt Schluss mit unverputzten Wänden?

… und wann merkt man eigentlich, dass ein Trend vorbei ist? Die Stilkolumne „Go viral or go home“ über rohe Wände in Großstadtwohnungen
Unverputzte Wände Ist der Trend vorbei
Matteo Cirenei

Über unverputzte Wände, echte Patina und das Ende von Trends

Woran merkt man eigentlich, dass ein Trend rückläufig ist? Verabschiedet er sich leise und unauffällig, tritt in den Hintergrund und überlässt einem anderen die Bühne? Oder bäumt er sich noch einmal stur auf und hält es wie der amerikanische Präsident Joe Biden, der noch nicht gehen will, obwohl es an der Zeit wäre, den Weg für eine jüngere und frischere Alternative frei zu machen?

Untersuchen wir die Frage anhand eines Beispiels: Eine Zeit lang sah man auf wohl kuratierten Instagram-Accounts und in den Wohn- oder Schlafzimmer von Millennials rohe und unverkleidete Wände. Ich kenne dafür keinen Fachbegriff, aber es handelt sich um die Sorte Wände, die ein bisschen so aussahen, als ob sie aus einer alten Zeit stammten. Das Rezept dafür war leicht: Man zog die ungeliebte alte Raufasertapete der Vormieter:innen ab und anstatt die Wand neu zu verspachteln oder zu streichen, ließ man sie nackt. So entstand nicht selten ein Bild, das, auf mehr oder wenige charmante Art und Weise, an Patina erinnerte; an verlassene Schlösser und pittoreske Fassaden im Süden Europas.

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Dabei wollte man in Mietwohnungen in Berlin-Friedrichshain vermutlich gar kein Schlossparadies, ganz im Gegenteil. Die unverputzte Wand hatte eine Haltung: alles andere als glattgebügelt, spießig oder erwachsen wollte man sein. Natürlich sah man die nackte Wand längst nicht nur in Berlin, sondern auch in Hamburg, Leipzig, Dresden oder Köln. Nur in München sah zumindest ich sie nie, vielleicht, weil die Menschen dort einfach zu viel Miete zahlen, um Wände bewusst zu vernachlässigen.

Nun ist die unverputzte Wand nur einer von vielen einprägsamen Wandgestaltungstrends, den es in den letzten Jahrzehnten gab. Da war die eine bunte Wand (die Betonung liegt hier ganz bewusst auf der eins), bei der drei Wände farblos blieben und nur eine einzige Wand in Farbe getaucht wurde. Wir Deutschen sind nicht unbedingt für unseren Gestaltungsmut bekannt, aber eine einzelne farbige Wand, damit konnte man sich anfreunden. Dann sah man plötzlich überall Palmentapeten, auch hier oft vorsichtig erst nur an eine Wand geklebt. Heute, möchte ich behaupten, sind wir wieder offener für bunte Wände geworden. Die Mutigen unter uns streichen sogar die Decke!

Die rohe, patinierte Berliner Wand sehe ich in letzter Zeit immer seltener. Dabei hatte sie fast schon etwas Metaphorisches: Man trägt Schichten ab, löst und befreit sich von alten Mustern. Vielleicht ist ihren Urheber:innen das passiert, was uns allen blüht: Sie sind älter geworden. Haben sich vielleicht nach einer sauber verputzten Wand gesehnt oder den Altbau schon längst gegen eine moderne Neubauwohnung mit Fußbodenheizung getauscht.

Man sagt, dass alte Mauern gute Geschichten erzählen. Das tun sie aber nicht nur, wenn man Schichten abträgt. Es dürfen bisweilen auch neue hinzukommen.

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