Sexismus

Was sind Daddy Issues? Vaterkomplex, einfach erklärt

Needy, anhänglich, unsicher: Frauen mit Daddy Issues gelten als wandelnde Red Flags und werden gerne lächerlich gemacht. Was wirklich hinter dem Vaterkomplex steckt
Pärchen
Relativity Media/courtesy Everett Collection

Daddy Issues: Wie macht sich ein Vaterkomplex bemerkbar?

Hand aufs Herz: Woran denkt ihr, wenn ihr den Begriff “Daddy Issues”, zu Deutsch “Vaterkomplex”, hört? Egal, ob in einem Meme, einem Dialog in einer Serie oder in einem Tinder-Profil – das, was in den meisten Fällen gemeint ist, wenn von einem Vaterkomplex bei Frauen die Rede ist, ist ganz schön sexistisch und problematisch.

Denn in der Debatte rund um Daddy Issues als Phänomen in der Psychologie, die sexuelle Bedeutung des Vaterkomplexes oder die “Symptome” von Daddy Issues legen wir den Fokus meist auf die falsche Person. Um es mit der treffenden Frage zu sagen, über die ich kürzlich auf Social Media gestolpert bin: “Wie ist der Begriff Daddy Issues zu einer Beleidigung für Frauen geworden, wenn es eigentlich um Männer gehen sollte, die als Väter gescheitert sind?” Und: Warum reden wir eigentlich nie darüber, dass der Vaterkomplex bei Männern genauso ein Thema ist?

Aber von Anfang an.

Was sind Daddy Issues? Wie entsteht ein Vaterkomplex?

Grundsätzlich gibt es keine einheitliche Definition oder gar ein Krankheitsbild, das genau beschreibt, was Daddy Issues sind. Meist meinen die Begriffe “Daddy Issues” oder “Vaterkomplex” die Auswirkungen, die eine nicht gerade ideale Beziehung einer Frau zu ihrem Vater auf ihr späteres Beziehungsverhalten hat, das Konzept Vaterkomplex kommt also aus der Psychologie.

Eine solche Beziehung kann unter anderem durch die völlige Abwesenheit des Vaters geprägt sein, aber auch durch seine nicht vorhandene emotionale Verfügbarkeit, Unzuverlässigkeit oder Ablehnung. Wenn du wissen möchtest, ob du unter einem Vaterkomplex leidest, ist es ratsam, mit einem:einer Expert:in über das Thema zu reden, denn ein Allheilmittel oder einen standardisierten “Daddy-Issues-Test” gibt es leider nicht.

Zurückzuführen sind die Auswirkungen, die dieses Verhalten auf uns und unsere Beziehungen hat, auf die Bindungstheorie. Diese besagt, dass wir als Kinder gewisse “Bindungstypen” erlernen: Mit Bezugspersonen, die uns Liebe und Sicherheit geben, formen wir eine sichere Bindung, während wir mit denen, die uns im Stich lassen und abweisen, eine unsichere Bindung formen. (Übrigens: Ihr kennt diese Theorie bestimmt von TikTok, wo die Attachment-Styles und vor allem der Anxious-Attachment-Style immer wieder Thema sind.)

Wie wirkt sich ein Vaterkomplex auf Beziehung und Sexleben aus? Das sind typische Anzeichen

Unsichere Bindungen zu Bezugspersonen und die dadurch entstandenen emotionalen Traumata können zum Beispiel dazu führen, dass man auch im späteren Leben immer wieder infrage stellt, ob man überhaupt Zuwendung und Liebe verdient hat, ob man genug geliebt wird oder vielleicht einfach nur zu needy oder sensibel ist.

Dieses ewige Grübeln und Infragestellen der eigenen Bedürfnisse ist eines der bekanntesten Symptome eines Vaterkomplexes, das bei Männern und Frauen gleichermaßen auftreten kann. Auch übermäßiges Klammern, Eifersucht und die übertriebene Angst, verlassen zu werden, können zu den Anzeichen zählen.

Ob Daddy Issues auch eine sexuelle Bedeutung und Auswirkung auf dein Sexleben haben, ist jedoch umstritten. Das Klischee, dass Frauen mit Daddy Issues mehr Sex haben und ihre Partner:innen häufiger wechseln, ist längst widerlegt. Klischeehaft wird außerdem häufig behauptet, dass Frauen mit Daddy Issues auf ältere Männer stehen.

Kann man einen Vaterkomplex loswerden?

Es ist grundsätzlich möglich, am eigenen Bindungsstil zu arbeiten und diesen positiv zu beeinflussen. Also ja, du kannst deine Daddy Issues unter Umständen loswerden. Ratsam wäre es hier, sich Expert:innen-Hilfe zu suchen: Sprich zum Beispiel mit einem:einer Therapeut:in, um wirklich zu verstehen, wo der Vaterkomplex begraben liegt, wie er dich in deinem Leben beeinflusst und welche Schritte du setzen kannst, um in deinen Beziehungen gesunde Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die deinem Selbstwert nicht schaden.

So äußert sich der Vaterkomplex bei Männern

Obwohl häufig nur vom Vaterkomplex bei Frauen gesprochen wird, können selbstredend auch Männer unter unsicheren Bindungen aus ihrer Kindheit und somit Daddy Issues leiden – im Grunde äußert sich ein Vaterkomplex hier nicht anders als bei Frauen.

Dass wir Daddy Issues trotzdem als “crazy” Frauenproblem wahrnehmen, liegt an der Art und Weise, wie der Vaterkomplex in unserer Gesellschaft häufig geframt wird. Deshalb ist das Konzept zutiefst sexistisch – weil es klischeehafte, vermeintlich “typisch weibliche” Eigenschaften wie überbordende Emotionalität in Beziehungen abwertet und so darstellt, als würden sie ausschließlich Frauen betreffen.

Warum ist das Daddy-Issues-Klischee problematisch und sexistisch?

Gegenüber Elite Daily erklärte die Klinische Psychologin Erika Groban, dass Daddy Issues, also zu Deutsch der Vaterkomplex, als “Sammelbegriff für Frauen, die von Männern als needy und verwundet gesehen werden”, verwendet werde. Und somit wird der Begriff “Daddy Issues” zu einem weiteren Tool, um die Emotional Needs von Frauen klein- und lächerlich zu machen und uns einzureden, dass es falsch sei, Zuneigung und Aufmerksamkeit zu wollen.

Ein weiteres Problem am Konzept der Daddy Issues: Es lenkt den Fokus auf die falsche Person – und führt zu einer Verschiebung von Schuld. Unser aktuelles Verständnis legt das gesamte Augenmerk auf die Frau, die vermeintlich zu schwach ist, um mit den Problemen aus ihrer Kindheit und Jugend klarzukommen, und sich deswegen lachhaft verhält.

Also verlieren Frauen mit Daddy Issues doppelt: Sie sind zu schwach, um die Vergangenheit zu bewältigen, und schaffen es außerdem nicht, später gesunde Beziehungen einzugehen. Dabei sollten wir doch vielmehr die abwesenden oder anderweitig unzulänglichen Väter kritisieren, die diese ganzen Issues erst durch ihr Verhalten auslösen.

Eine unsichere Bindung zum eigenen Vater kann weitreichende Auswirkungen auf das spätere Leben haben. Sie kann sogar das Depressionsrisiko erhöhen, wie eine Studie zeigt. Und das ist es, worüber wir reden sollten: Vaterfiguren, die sich toxisch maskulin verhalten, sich emotional entziehen, im schlimmsten Fall sogar übergriffig werden, und die schmerzhaften, komplizierten Spuren und Traumata, die sie mit ihrem Verhalten hinterlassen. Ganz ohne sexistische Labels, Abwertungen und halb lustige Memes.